MARTIAL

Die Gefahr Doualas bekomme ich zu spuehren. Mir geht es nicht gut,  weil am Sonntag Martial bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen ist.
"Alida, was ist mit deinem Kollegen", fragt mich Zoe, als wir gerade zum Strand gehen wollen. In Alexis Whatsapp-Status ist ein Bild von Martial mit der Unterschrift "R.I.P". "Was?", frage ich. "Was soll das. Ich muss Alexis anrufen." "Vielleicht wurde er einfach gefeuert", ueberlegt Margarete. "Es kann schon sein, dass er einen Unfall hatte", stellt Johannes fest.
Ich aktiviere meine Mobilen Daten und habe Angst, dass in der DUCA-Whatsappgruppe neue Nachrichten eingetroffen sind. Meine Befuerchtung bewahrheitet sich. "Oh Gott", sage ich und klicke drauf. Ich lese: "J´ai le profond regret de vous annoncer le décès de notre collaborateur, Martial, déces survenu de suite d´un accident de circulation." Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weine.
Am Freitag habe ich ihn das letzte Mal gesehen. Er hat mir erzaehlt, dass er Bewerbungen abschicken moechte. Er suche einen neuen Job, hat er gesagt. Dann war Stromausfall. Das ist immer lustig. Pascal macht seine Musik an. Wir singen, tanzen und mir werden Songtexte erklaert. Bis der Strom irgendwann wieder da ist und wir weiterarbeiten koennen.
Was soll ich denn jetzt machen. Zum Strand gehe ich heute bestimmt nicht mehr. Ich entscheide mich nicht in die WhatsApp-Gruppe zu schreiben. Beziehungsweise ich tu es einfach nicht. Nichts-Tun ist einfacher als Entscheiden.
"Schoen, dass wir ihn noch kennenlernen durften", sagt Margarete. Zoe und Johannes stimmen zu. Ich muss wieder weinen.
Ich weiß ueberhaupt nicht, was passieren wird. Ich will zur Beerdigung. Hoffentlich kann ich zur Beerdigung.
Ich rufe Florentine an. Sie hebt nicht ab. Als ich im Bus zurueck nach Douala sitze, ruft sie mich zurueck. Sie ist in Gedanken. Das merke ich. "Wir sprechen am Besten morgen", sagt sie. "Wir sehen uns ja sowieso bei dem Seminar." Dieses herauszoegern macht mich kirre. Morgen ist unser Zwischenseminar angesetzt. Das heißt ich komme morgen frueh nicht auf Arbeit. Ich will aber wissen, was los ist, wie es weitergeht und was ich machen soll.
"Was passiert jetzt bei  DUCA?", frage ich mich und die anderen. "Ich geh davon aus, dass ihr trauert und dann recht zuegig normal weiterarbeiten werdet", vermutet Johannes. Das ist krass, denke ich.
Am naechsten Morgen klingelt mein Handy um 6 Uhr. Fabrice ruft mich an. Was gibt es denn zu sagen. Zumindest wuesste ich nicht, was ich sagen soll. Ich entscheide mich, nicht abzuheben. Beziehungsweise ich tu es einfach nicht. Nicht-Tun ist einfacher als Entscheiden.
Florentine ist da. Wir unterhalten uns lange. "Er saß im Buero direkt neben dir, nicht wahr?", sagt sie. Ich nicke und koennte wieder weinen.
Beim Seminar kann ich mich nicht konzentrieren. Ich will zu meinen Kollegen. Ich will mit ihnen reden. Ich will es hinter mich bringen.
Es klingelt. Alexis kommt und bringt uns Essen. Er grueßt alle. "Bonjour, mon père", sage ich. "Ça va?", fragt er. "Ça va", sage ich. "Ça va aller", troestet er.
Eigentlich wollte ich nachmittags noch zur Arbeit. Wird nichts mehr. Seminar war zu lang. Noch einen Tag herauszoegern. Schrecklich.
"Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Pascal morgen keine Witze macht", sage ich zu Margarete als wir abends zusammensitzen. "Die DUCA-Familie ohne lachen, ohne Freude, ohne verrueckte Kommentare ist unvorstellbar." Ich will endlich ins Buero.
Am Dienstag wache ich eine Stunde vor meinem Wecker auf. Einschlafen kann ich nicht mehr. Ich stehe direkt auf und mache mich fertig. Viel frueher als sonst fahre ich zur Arbeit. Trotzdem muessten meine Kollegen schon da sein. Sind sie nicht. Ich bin allein im Buero. Ich setze mich auf meinen Platz und schaue hinueber auf den Schreibtisch, der bis Freitag Martials Arbeitsplatz war. Der PC  ist noch aufgeklappt und sein Kalender liegt auf der Zeitung von Donnerstag. Der Stuhl ist leer. Ich weine.
Allein im Buero, dass eigentlich schon voll sein muesste. Eine  Schuelerin tritt ein und fragt: "Sie sind allein? Wann kommt Msr Alexis?" Ich sage: "Um 9." Dabei habe ich keine Ahnung. Sie bedankt sich, geht raus und ich schaue wieder auf den Schreibtisch von Martial. Er koennte jetzt reinkommen und sich hinsetzen. Waere ueberhaupt kein Problem, waere alles wie immer.
Genauso wie ich mich nach dem Moment sehne, in dem der erste Kollege eintritt, fuerchte ich mich. Um 9.05 Uhr ist es soweit. Es ist Fabrice. Wir begrueßen uns und sprechen ueber Martial. "Ich versuche jetzt zu arbeiten", sagt er. Da tritt Pascal ein. "Ça va?", fragt er. "Ça va", sage ich. Kein Witz, kein Kommentar, keine Dummheit. So kenn ich ihn nicht. Und er mich auch nicht. Er unterhaelt sich mit Fabrice auf franzoesisch. Dann sagt er: "Life is hard", und geht raus um seinen Kurs vorzubereiten.
"Nezamzadeh, ich schicke dir ein Dokument vom Englischunterricht von Martial. Kontrollier das mal bitte", ruft Fabrice mir zu. Und jetzt sitze ich hier vor seinem Dokument, erstellt von ihm, bearbeitet von ihm und unterzeichnet von ihm. Ich hoere seinen Handyklingelton in meinem Ohr. Einbildung. Ich schaue nochmal zu seinem Schreibtisch. Kalender, Computer und Kopfhoerer sind schon weggeraeumt.