VOLLSTAENDIGKEIT
Oft vergesse ich, dass jedes Detail meines Freiwilligendiensts - vielleicht auch die unangenehmen und unschoenen - die Schoenheit des Großen und Ganzen ausmachen, selbst wenn Erwartungen nicht erfuellt werden. Dem wurde ich mir bewusst, als ich sprachlos vor den Wasserfaellen bei Nkongsamba stehe. Vertraeumt stelle ich mir vor wie sich ein einzelner Wasserpartikel fuehlen koennte.
Ich rase mit meinen Freunden den Ekomfluss entlang. Gestartet bin ich vorgestern bei Kekem. Dort bin ich einer kleinen Quelle entsprungen. Meine große Aufgabe beginnt aber jetzt. Ich stehe kurz vor den Wasserfaellen.
Als ich noch ein ganz kleiner Wasserpartikel war, erzaehlte man mir schon davon: Die zwei maechtigen Stroeme, die in der Naehe von Nkongsamba den 80 Meter hohen Abhang hinunterstuerzen. Unendlich viele Wassertropfen spritzten hunderte Meter weit. Ununterbrochen ziere ein bunter Regenbogen das Naturereignis. Die Landschaft leuchte regelrecht. Der Laerm der Faelle dringe in die letzte Ecke der Steinwaende. Und ich bin ein kleiner Wassertropfen, der die Ehre hat, ein Teil davon zu sein. Noch weiß ich nicht, was aus mir wird. Wenn alles so laeuft, wie ich es mir wuensche, klatsche ich den groeßten der beiden Stroeme hinunter. Ich lande im Teich und werde mit meinen Kameraden weggespuelt und an der Grenze zum Westen durch ganz Littoral geschippert, bis ich nach abenteuerlichen Umwegen viele Wochen spaeter im Wouri muende und letztlich bei Douala in den Atlantischen Ozean freigelassen werde.
Wenn das nicht klappt moechte ich am Abhang durch die Luefte geschleudert werden. Die Aussicht von dort soll besonders beeindruckend sein. Dann lande ich auf einer der vielen wunderschoenen Blumen und fuettre sie mit meinem Reichtum an Fluessigkeit.
Und sollte ich frueher schon den Pfad verlieren, besteht noch immer die Moeglichkeit, dass ich auf den kleinen aber feinen Wasserfall daneben gelange. Man sieht ihn erst, wenn man genau hinschaut, aber das ist dann immer ein besonderes Erfreunis.
Ich schaue zu einem Wasserpartikel neben mir. Er denkt wahrscheinlich das selbe wie ich. Die Aufregung bei uns allen ist zu spueren. Jetzt heißt es volle Konzentration, sodass ich den Weg finde, den ich mir immer gewuenscht habe. Ich will in Mitten meiner Kameraden den freien Fall erleben. Ich sehe schon den Abhang. Ich nehme Anlauf. Da ist es.
Ich erschrecke. Als ich wieder zu mir komme, klebe ich auf einer abgedunkelten Glasscheibe. Mein Plan ist wohl nicht aufgegangen. Mist. Hinter der Glasscheibe sehe ich eine große gruen-braune Kugel, die mich anblickt. "Das ist ein besonderer Ort", sagt eine Stimme, "alles ist so stimmig". Das letzte was ich hoere ist: "Aber sieh nur, die Wassertropfen auf meiner Sonnenbrille. Die nehmen mir ja fast die ganze Sicht. Voll nervig." Dann wischt sie mich weg.
Was ich nicht mehr mitbekomme, ist, wie sie sagt: "Obwohl. Eigentlich gehoert das ja auch dazu. Die unklare Sicht, der Blick durch die Tropfen auf der Brille, das staendige Wegwischen: Das macht es doch eigentlich erst richtig vollstaendig."