AIAIAI KERMANI

Bis zur letzten Sekunde habe ich nicht damit gerechnet. Die letzten Wochen in Kamerun moegen turbulent gewesen sein. Aber fuer uns war jede Nachricht der Verzoegerung eine Freude, denn wir blickten auf Deutschland mit Angst. Wir haetten noch weniger Zeit zum Abschied nehmen gehabt und diese ganze Ausreise waere noch viel intensiver an uns vorbeigerauscht.


"Alida, wir haben eben erfahren, dass die Freiwilligen aus Jaunde ausreisen muessen und du heulst rum wegen deinen Naegeln?" Johannes regt sich auf. Aber das mit den Naegeln ist echt schrecklich. Ich habe mich einmal getraut zu den Kosmetikerinnen mitten auf der Straße zu gehen und es war die schlimmste Entscheidung meines Lebens. Mit Sekundenkleber und Kuechenmessern, hat die Frau meine Fingerkuppen zerstoert. "Wenn wir auch nach Deutschland muessen, habe ich wenigstens mein altes Nagelstudio wieder", motze ich rum. Johannes verdreht die Augen. Ja, ich nehme das nicht so ernst. Als ob wir ausreisen muessen. Die von der anderen Organisation sind einfach nur uebertrieben vorsichtig. Brot ist cool. Die machen das nicht.
"Alida, ich habe Panik, vor der Mail morgen", sagt Johannes. "Meine Naegel. Johannes, es gibt wirkliche Probleme. Ich habe keine Ahnung, wie ich die retten soll", entgegne ich. Wir nehmen beide unsere Sorgen nicht ernst. Die Frage ist: Bei wem ist es angemessen, bei wem nicht?
Montag gehe ich mit Camilla essen. Eine richtig leckere Pizza. Wir unterhalten uns ueber alles, aber nicht ueber Corona. Wir kichern, als wir das Desinfektionsmittel auf den Tischen sehen. "Albern", murmle ich. Im Taxi zurueck zur Arbeit aktualisiere ich meine Mails: Susanne hat geschrieben, dass wir ausreisen.
Ich schreibe Camilla.
Ich erzaehle es im Buero Alexis.
Heulkrampf 1.
Ich erzaehle es Madame Moukouri.
Ich erzaehle es Pascal.
"Aiaiai Kermani", sagt er.
Ich erzaehle es meinen Eltern.
Ich fahre nachhause und esse meine Schokolade leer.
Ich schicke Nachrichten an meine Freunde und verabrede mich mit ihnen.
Heulkrampf 2.
Ich gehe schlafen.
Ich erfahre, dass wir Morgenabend fliegen werden.
Ich fahre zur Arbeit.
Ich setze meinen Computer zurueck und sichere meine Bilder.
Ich raeume meine Sachen aus dem Buero.
Ich feire Abschied.
Heulkrampf 3.
Ich sage meinen Kollegen tschuess.
Ich sage den Schuelern tschuess.
Ich nutze meinen letzten Handykredit.
Ich packe.
Ich sage Barbara und Loic tschuess.
Ich sage Camilla und Noubi tschuess.
Ich gehe schlafen.
Ich sag Sidonie tschuess.
Ich erfahre, dass unser Flug annulliert wurde. Ich freue mich ein bisschen. Wir muessen auf eine Rueckholaktion warten.
Ich packe zu Ende.
Heulkrampf 4.
Ich gehe schlafen.
Wir fahren nach Jaunde.
Wir warten.
Wir machen ein TikTok zu Miley Cyrus.
Wir fahren nach Zalom.
Wir genießen jede Sekunde in Zalom. Mit den Kindern. Mit uns. Mit Kamerun.
Wir erfahren, dass wir Morgenfrueh fliegen.
Heulkrampf 5.
Wir fahren zum Flughafen.
Dort erlebe ich ein Bild der Trauer. Viele weiße Gesichter in der ewiglangen Schlange. Wir grueßen im Vorbeigehen diejenigen, die wir kennen. Ein Bundeswehrsoldat mit arabischen Namensschild verteilt Masken und Handschuhe. Zwischen Traenen und Witzen dreh ich mich zu Johannes um. "Die Geschaefte in Deutschland sind ja alle zu", sage ich schockiert. "Ja, klar, und?", fragt er. Ich antworte: "Dann kann ich ja nicht mal zu meinem Nagelstudio."

(Anmerkung vom 30.07.2023: Ich habe in dieser Geschichte eine rassistische und verletzende Bezeichnung verwendet und den Text deshalb verändert.)